Jürgen Raap
Kunstforum International (Band 182/2006)
Die Dritte Haut: Häuser

Illusionäre Architektur

Noch heute, 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, sind in Berlin längst nicht sämtliche Kriegsschäden restlos beseitigt. Andere Brachflächen entstanden später in der Umbruchsituation nach der "wende" 1989/90. Rein utopischen Charakter hat die illusionäre Architektur der Künstlerin Nicola Schudy, die 2002 im Berliner Projektraum Royal und 2004 im Rahmen der Kölner Architektur-Ausstellungsreihe Plan04 einen fiktiven Bebauungsplan für solch ein Brachgelände vorstellte.

In Berlin und in anderen Großstädten sind solche unkrautüberwucherten Einöden oder Trümmerlöcher oftmals aus Geldmangel, aufgrund von Fehlplanungen oder aus spekulativen Gründen noch nicht durch Bebauung definiert. Sie dienen als Abladeplatz für wild entsorgten Müll und als provisorische Heimstatt für Obdachlose, als Spielplatz für herumstreunende Kinder und als Biotop für die Fauna und Flora in der Großstadt, die hier manchmal artenreicher ist als in der ländlichen Umgebung.

An solch einem Ruinenfeld nahm Nicola Schudy eine künstlerische Besetzung und Eroberung vor. Auf einen Tisch inszenierte sie ein Modell mit einem weißen beleuchteten Pavillon im Zentrum, und dabei nutzte sie die klassische architektonische Form als Projektionsfläche für Text- und Tonfragmente, als "eine Art Liebesbrief an das Haus, den Platz, den Ort..."

Ein künstlerisches (Modell)hauskonzept wie dieses ist ausdrücklich als "Sehnsuchtsarchitektur" definiert. Damit will Nicola Schudy nicht einfach bloß einen unwirtlichen Ort praktisch verschönern, sondern dieser fiktive Bauplatz dient als Projektionsfläche für Vorstellungen nach einem idealen Ort mit einer Architektur, die dann ebenso eine ideale ist und zugleich eine optimale (formal)ästhetische Lösung darstellt und die Bedürfnisse der Nutzer erfüllt.

Schudys Konzept mündet mithin in eine poetische Metapher. Dafür gibt es in der Geistes- und Literaturgeschichte viele Vorbilder. So hat z.B. die von Johann Joachim Winkelmann initiierte Antikenschwärmerei das 18. Und 19. Jahrhunderts die Landschaft des Peleponnes als "Arkadien" romantisiert: Für die Fans der griechischen Klassik bot diese antike arkadische Idealwelt Schönheit, Frieden und Harmonie in einer sonst nirgendwo zu findenden Vollkommenheit. Damit ist Arkadien ein - freilich fiktionaler - Ort, der alle Voraussetzungen nach Glückseligkeit des Menschen erfüllt.

"Sehnsuchtsarchitektur" ist eine Formel der Wiederannäherung an ein verloren gegangenes Paradies. Sie schafft Freiräume und ist darum ein Refugium, in welchem persönliche Freiheit sich ungehindert entfalten kann - "zu Hause sein " bedeutet in einem übertragenen Sinne, das Paradies "in sich zu tragen ", wenn auch nur in mikrokosmischer Dimension....

Projektdetails:
_Eine architektonische Sehnsucht

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