Renate Puvogel
Jahrbuch Künstlerhaus Schloss Balmoral 2006/2007

Denk-Modelle

Nicola Schudy erschafft architektonische Denk-Modelle. Sie können nicht gebaut werden und sie sollten es auch nicht, denn sie führen nicht selten in Abgründe, in denen es sich nicht gut einrichten lässt. Es handelt sich eher um kritische Kommentare zum Status quo allgemeiner Lebensverhältnisse. Obendrein sind sie Ausdruck eines Lebensgefühls, das wenig beheimatet ist, das aber immer auf der Suche nach dem eigenen Ich, nach Identifikation ist. Denn warum sonst konzentrieren sich Schudys Zeichnungen und Installationen so oft um ein Zentrum. Allerdings ist dieser Mittelpunkt nicht gerade verlässlich, er ist brüchig, durchlässig, ja, bodenlos. Zeichnungen handeln von Trichtern, von Schlünden, Verließen, Kratern; bei den Installationen sprengen konische Stellagen die Tischplatte und ragen hinab in die Tiefe oder massive Tropfen fallen aus kegelförmigen Anhäufungen hinunter. Es drängt sich eine Nähe zu den phantasiereichen Zeichnungen und Skulpturen von Daniel Roth auf, bei denen sich hinter heimlich/unheimlichen Durchgängen abenteuerliche unterirdische Welten auftun. Schudy hingegen führt diese Welten nicht vor, für sie bleiben sie der eigenen Imagination vorbehalten, bleiben als persönliche Innenwelten verborgen, sie äußern sich höchstens in verbalen Vermutungen wie "vielleicht wirkt die Einsamkeit wie ein Magnet", eine Bemerkung, die das Unerforschliche des eigenen Selbst bestätigt. Die Textzeile begleitet die große, bemerkenswerte Wandmalerei "Instant Room (am Ereignishorizont)", eine schwungvoll gemalte Vision zentripetaler Kräfte von spiralförmigen Wirbeln, die sich auf einen rotierenden Strudel hin verjüngen und in ihm versinken. Nicht von ungefähr übt das Phänomen des schwarzen Loches auf Schudy eine prägende Anziehungskraft aus. Die Rauminstallation "Verschluckte Landschaft" von 2004 besteht aus einem dunklen, aufgehäuften Hügel mit einem Loch in seiner Mitte, d.h. es muss korrekterweise lauten 'er bestand' aus einem Berg, denn dieser Berg war essbar, sollte verschluckt werden, wobei am Ende allein das imaginierte schwarze Loch übrig blieb. Schudys Entwürfen haftet das Moment des Entropischen an, weil der Eindruck überwiegt, die Welt entwickele sich in Richtung Unordnung und Auflösung. Ihre neuerliche Installation "Notiz zum Parkett" von 2006 in Bad Ems, bei welcher perfiderweise erst unter dem heilen Boden der unerreichbare Untergrund des doppelten Bodens aufgebrochen ist, bestätigt diese Annahme.

Es gibt aber auch positive Utopien, etwa "Eine architektonische Sehnsucht" von 2002/04, bestehend aus einer Tischplatte, auf welcher ein Ensemble blühender Pflanzeninseln um einen Rundtempel herum arrangiert ist. Und wenn auf die Wand darüber wechselnde Texte projiziert werden wie "Eine Art Liebesbrief an das Haus, den Platz, den Ort etc.", dann bringt ausgerechnet der Rückgriff auf den historischen Bautypus Pavillon etwas hoffnungsvoll Zukunftweisendes. Nicht nur Schudys sprachlichen Formulierungen sondern auch den bildnerischen wohnt eine poetische Energie inne. Der modellhafte, anschaulich utopische Charakter der Arbeit lässt an die narrativen Entwürfe von Ludger Gerdes denken. Der Künstler erwarb sich in den 80er Jahren im Zusammenhang mit den Modell-Bauern einen Namen. Auch ihre jüngste Installation "MY CASTLE" ist in ihrem provisorischen Schwebezustand zwischen Aufbau und Abbruch im Sinne von "Ideen-Architektur" zu sehen ist. Sie ist bei Schudy aber Projektionsfläche des inneren Bildes und vermittelt deutlich, wie sehr die Sehnsucht nach dem physischen wie seelisch-geistigen Zuhause, das Ankommen in der Heimat und bei sich selbst die Künstlerin als durchgängige Fragestellung umtreibt. Dabei fällt auf, dass sie sich in ihren Konzepten zunehmend an Vorhandenem reibt; sie setzt sich mit real existierenden städtebaulichen Verhältnissen auseinander, wobei Landschaft für sie Teil des Systems ist. Sie arbeitet mit den Metaphern realer Architektur wie dem Boden, der auch hier brüchig ist, und dem Bauschild, das wie eine vergrößerte Staffelei wirkt. Die Maßstäbe geraten durcheinander, appellieren an die kreative Vorstellung, so wie es bei einer Künstlerin, die sich im Bereich Bühnenbild und Filmausstattung auskennt, nahe liegt. Sie verlangt nach sprechender, erzählender Architektur.

Dass sich Vision und Wirklichkeit nicht decken, erfährt man eingehender angesichts der Aquarelle. Da berührt einerseits die Schönheit der Blätter, die Art duftigen Farbauftrags, der ein Sujet wie eine Fata Morgana aus der Leere des Umraums auftauchen lässt. Andererseits befremden die Szenarien selbst, sie sind keineswegs verheißungsvoll: Barrieren durchqueren die Bühne, Hochhäuser überragen die Vegetation, dicke Steine versperren den Zugang, eine Straße mündet im Tunnel und - das eindrucksvollste Blatt - ein Haus zerbirst und versinkt im verschneit wirkenden Gebirge. Oder steigt es daraus empor? Konstruktion und Dekonstruktion sind ununterscheidbar.

Der Institution Schloss Balmoral hat Schudy ein Wandobjekt von 2006 mit dem Titel "Wald" geschenkt. In dieser plastischen Arbeit fließen viele der genannten Kriterien zusammen. Da ist zunächst das lapidare Material zu nennen: ein altes, offenes Regal für den Kasten, abgestorbene Äste, die sich mit ihren eigenen Schatten zum Wald verdichten, und weiße synthetische Schnüre. Letztere lagern wie Schnee ungeordnet auf dem Kastengrund und fallen aus ihm heraus wie Eiszapfen, d.h. sie fallen in den realen Raum, wodurch die Illusion von einem Waldbild gestört wird; die Dimensionen verschwimmen. Die Landschaft ist auch hier Teil des Architektonischen, und die Trauer um einen weniger idyllischen denn toten Wald ist durch die Ästhetik des Kunstwerks besänftigt.

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